Während sie ihrer Mutter Sarah beim Umzug in ein neues Haus hilft, entdeckt Natalie in einer alten Schachtel eine verblasste Fotografie. Auf dem Bild ist Sarah zu sehen, wie sie ein neugeborenes Baby mit einem markanten Muttermal auf der Wange hält. Doch Natalie selbst hatte nie ein solches Muttermal. Verwirrt wird ihr klar, dass ihre Mutter ein Geheimnis hütet.
Natalie verstärkte ihren Griff um die schwere Kiste und warf einen Blick auf Sarah, die eifrig mit dem Sortieren ihrer Sachen beschäftigt war. Ein neues Gefühl, Bewunderung, erfüllte sie – ein Gefühl, das ihr fremd war. Jahrelang hatte sie ihre Mutter gebeten, Ross zu verlassen, sie vor seinen manipulativen Methoden gewarnt.
„Du verdienst etwas Besseres“, sagte sie immer wieder, aber Sarah hörte nie darauf. Jedes Mal, wenn sie Ross verließ, kam sie zurück, verführt von einer glänzenden Halskette oder einem teuren Abendessen. Doch heute schien es anders zu sein. Sarah hatte endlich die Kraft gefunden, sich zu befreien.
Während sie ihre Mutter beobachtete, die trotz der Angst in ihren Augen weiter machte, spürte Natalie eine neue Art von Respekt.
„Ich kann kaum glauben, dass das wirklich passiert“, sagte Sarah mit zitternder Stimme und sah auf das leere Haus. Es war ein Neuanfang, aber die Angst war noch immer in ihren Augen.
Natalie hielt inne und beobachtete ihre Mutter. „Wie fühlst du dich dabei?“
„Ich habe Angst, Natalie“, gab Sarah zu, ihre Schultern fielen herab. „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“
„Ich verstehe, Mama. Es ist normal, Angst zu haben. Aber vergiss nicht, dass du das Richtige getan hast.“
Sarah wand sich die Hände und blickte auf den Boden. „Was, wenn ich wieder zu ihm zurückgehe? Was, wenn ich es alleine nicht schaffe? Was, wenn ich scheitere?“
„Du wirst nicht scheitern, Mama“, sagte Natalie entschlossen. „Du wirst einen Weg finden, und ich werde an deiner Seite sein. Du bist nicht allein in diesem Abenteuer. Du hast mich, deine einzige Tochter, und ich werde nirgendwo hingehen.“
Sarah hob den Blick, und ihre Augen füllten sich mit unvergossenen Tränen. Ihre Brauen zogen sich zusammen, ihre Lippen zitterten.
„Mama, geht es dir gut?“, fragte Natalie besorgt.
„Ja, ja. Entschuldige, ich war nur in Gedanken.“ Sarah erzwang ein Lächeln.
Sie begannen auszupacken und konzentrierten sich auf die kleinen Aufgaben. „Du hast wirklich viele Dinge aufgehoben, Mama“, bemerkte Natalie, als sie eine weitere schwere Kiste anhob.
Sarah antwortete aus dem anderen Raum: „Oh, wirklich? Ich erinnere mich an eine bestimmte Studentin, die eine riesige Menge an Kisten hatte.“
Natalie lachte und schüttelte den Kopf. „Okay, okay, erwischt. Aber ich bin jetzt anders. Ich habe gelernt, loszulassen.“
Sie öffnete eine staubige Schachtel, die einen Stapel alter Fotoalben enthielt. Sie strich über das oberste Album und blätterte es durch, lächelte, als sie sich selbst als kleines Kind im Garten spielen sah, in lustigen Halloween-Kostümen und mit einem breiten Lächeln.
Seite für Seite sah sie das lächelnde Gesicht von Sarah neben ihrem eigenen, aber sie mied die Fotos, die Ross zeigten. Sie blätterte schnell durch, spürte jedes Mal ein bitteres Gefühl, wenn sein Gesicht erschien.
Als sie die Alben durchgeblättert hatte, erreichte sie den Boden der Schachtel und bemerkte einen alten Umschlag. Er schien nicht dazuzugehören, versteckt wie ein Geheimnis. Die Neugier überwältigte sie, und sie öffnete ihn vorsichtig.
Im Inneren fand sie ein einzelnes Foto. Es zeigte eine viel jüngere Sarah, müde, aber glücklich, wie sie ein neugeborenes Baby im Krankenhaus in den Armen hielt. Natalie kniff die Augen zusammen und betrachtete das Baby, und ihr Lächeln erstarb. Ein großes Muttermal bedeckte die Wange des Kindes.
Sie drehte das Foto um und las das Datum. Es war das Datum ihrer eigenen Geburt. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und Verwirrung überkam sie. „Aber ich hatte nie ein Muttermal“, murmelte sie und betrachtete das Bild erneut. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als die Angst sich festsetzte. Etwas stimmte nicht.
Natalie stürmte ins Schlafzimmer und hielt das Foto fest in der Hand. „Mama? Hast du mir etwas zu erklären?“, fragte sie und hielt Sarah das Foto hin.
Sarahs Augen weiteten sich, und sie erstarrte, sichtlich erschüttert. „Äh… Natalie… wo hast du das gefunden?“, fragte sie mit zitternder Stimme.
„In der Schachtel mit den Fotoalben“, antwortete Natalie kalt.
Sarah schluckte schwer. „Ich kann es erklären. Das ist… das ist einfach das Baby einer Frau, die mit mir im Krankenhaus war.“
Natalie zog die Augenbrauen zusammen. „Wirklich? Und du hast das all die Jahre aufgehoben? Warum würdest du es in einem Umschlag verstecken?“
„Ich-ich weiß es nicht“, stotterte Sarah und rieb sich den Hinterkopf. „Es ist nichts, Natalie.“
„Lüg mich nicht an, Mama“, erwiderte Natalie. „Du machst das immer, wenn du lügst. Was ist los? Wer ist dieses Baby?“
Sarah seufzte, und ihre Hände zitterten. „Es ist kompliziert, Natalie. Das war vor langer Zeit…“
Natalie verschränkte die Arme. „Dann fang an zu erklären.“
Sarah holte tief Luft und setzte sich auf die Bettkante. „Okay. Aber versprich mir, mich nicht zu hassen.“
„Das kann ich dir nicht versprechen“, sagte Natalie scharf. „Sag es mir einfach.“
Sarah schloss die Augen für einen Moment, um ihre Gedanken zu sammeln. „Als dein Vater und ich zum ersten Mal geheiratet haben, hatten wir kaum etwas. Wir waren arm und kamen gerade so über die Runden.“
Natalie seufzte und wurde ungeduldig. „Das weiß ich alles, Mama.“
Sarah nickte. „Dann, als ich schwanger wurde, waren wir aufgeregt, aber auch verängstigt. Wir hatten kein Geld, aber wir wollten das Baby behalten. Als wir zum zweiten Ultraschall gingen, sagten sie uns, dass wir Zwillinge erwarten.“
Natalies Augen weiteten sich, die Enthüllung traf sie wie eine Welle. „Zwillinge?“
Sarah nickte, Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ja. Aber dein Vater… er kam damit nicht klar. Er sagte, dass wir uns zwei Kinder nicht leisten könnten. Er wollte, dass ich abtreibe, aber es war zu spät.“
Natalie hielt den Atem an, sagte aber nichts, wartete darauf, dass ihre Mutter weitersprach.
„Als du geboren wurdest“, flüsterte Sarah, „hattest du eine Schwester. Aber dann… brachte dein Vater zwei Fremde ins Krankenzimmer. Er sagte… dass eine von euch gehen müsse. Ich flehte ihn an, Natalie, ich tat es. Aber er hatte bereits seine Entscheidung getroffen.“
Natalies Hände ballten sich zu Fäusten. „Du hast sie gehen lassen?“
„Ich hatte keine Wahl“, schluchzte Sarah. „Ich wollte keine von euch beiden verlieren.“
Natalie stand auf, ihre Brust hob und senkte sich vor Wut. „Also habe ich eine Schwester – eine Zwillingsschwester – und du hast mir nie davon erzählt? Du hast sie gehen lassen und bist bei ihm geblieben?“
„Ich liebte ihn“, flüsterte Sarah, die Tränen liefen unaufhaltsam.
Natalie starrte sie an, ihre Stimme bebte vor Wut. „Du hast ihn mehr geliebt als dein eigenes Kind! Ich wusste, dass du keine perfekte Mutter warst, aber das… ist schlimmer,
als ich mir jemals vorstellen konnte.“